Konzentriert beugt sich Washington Cucurto über einen Berg aus Pappe. Mit einem Kartonmesser schneidet er aus den einzelnen Bögen gleichmäßige rechteckige Stücke.
Buenos Aires. Papiermüll-Sammler, sogenannte Cartoneros, die nachts durch die Straßen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires ziehen, haben die ausrangierten Verpackungen für Milchflaschen, Mehl oder Kartoffelchips-Tüten zusammengesucht. Cucurto und seine Helfer machen daraus Buchcover – die dann zu Kartonbüchern werden. „Wir haben kein elitäres Konzept, sondern drucken, was uns gefällt“, erklärt der 36- jährige Argentinier, der selbst als Schriftsteller arbeitet. „Das können Klassiker sein, oder zeitgenössische Literatur, oder auch ein Text von irgendeinem Jugendlichen, der zum ersten Mal schreibt“.
2003 gründete Cucurto gemeinsam mit seinem Dichterfreund Fabián Casas den Kartonbuch-Verlag „Eloisa Cartonera“. Eloisa sei der Name seiner damaligen Angebeteten gewesen, erzählt Cucurto zögernd. „Leider ist nichts daraus geworden. Sie ist auch nur einmal hier im Verlag zu Besuch gekommen.“ Der Name blieb trotzdem. Büro und Verkaufsraum des Verlags liegen mitten im Stadtteil „La Boca“, nur einen Häuserblock entfernt vom Stadion „Bonbonera“, wo Fußballstar Diego Maradona einst mit den Boca Juniors seine großen Erfolge feierte. „Die Boca Juniors sind eigentlich gar nicht mein Verein“, sagt Cucurto, „aber wir fühlen uns hier in der Gegend wohl“.
„Eloisa Cartonera“ arbeitet als Kollektiv. Jedes Wochenende teilen die elf Mitarbeiter das Geld, das durch den Bücherverkauf in die Kasse gekommen ist, unter sich auf. Viele von ihnen stammen aus dem eher armen Stadtviertel und waren vorher arbeitslos – so wie der 47- jährige Roberto Caceres, heute einer der aktivsten Autoren des Verlags. „Cucurto haben meine Texte gefallen – das war mein Glück.“ Auch die vielen Cartoneros der argentinischen Hauptstadt profitieren von dem Kartonverlag: Anstelle der üblichen 20 Cent pro Kilogramm Pappe zahlt ihnen „Eloisa Cartonera“ 25 Cent pro einzelnem Pappbogen.
Aber der Verlag ist längst mehr als ein Hilfsprojekt. Die Nachfrage nach den Pappbuch-Unikaten, von denen jedes einzelne per Hand schreiend bunt bemalt wird, ist riesig. Besonders bei Touristen sind die Pappbücher als Souvenir gefragt, aber auch in den Buchläden Argentiniens verkaufen sie sich aufgrund ihrer günstigen Preise bestens. Während normal gebundene Bücher zwischen 10 und 20 Euro kosten, ist ein Kartonbuch schon für 2 zu haben. Allerdings druckt „Eloisa Cartonera“ in erster Linie Texte „eigener“ Autoren, für alle anderen müssen sie die Rechte erwerben. In der Regel überließen die Autoren oder Rechteinhaber diese aber als Spende.
Hilfsgelder gibt es keine, „Eloisa Cartonera“ trägt sich selbst. „Wir fertigen 3000 Stück am Tag, aber kommen mit der Produktion trotzdem nicht hinterher“, erzählt Cucurto „Ich komme kaum noch zum Schreiben – nur nachts oder im Bus habe ich dafür noch Zeit“.
Das erfolgreiche Konzept hat sich herumgesprochen. „Nach meinen Erkenntnissen gibt es inzwischen schon 30 Kartonbuch-Verlage – zum Beispiel in Brasilien, Mexiko, El Salvador, Guatemala, Peru, Chile, Bolivien, Paraguay, Ecuador und Uruguay“, sagt Johana Kunin. Die 28 Jahre alte argentinische Anthropologin recherchiert seit Monaten über die Kartonbuchverlage. „Sie funktionieren alle eigentlich sehr gut, haben aber natürlich auch mit vielen Problemen zu kämpfen: So müssen viele der Mitarbeiter noch einen zweiten Job annehmen, weil sie sonst nicht überleben könnten. Außerdem werden viele der Kartonbuchverlage von der Literaturkritik in ihren jeweiligen Ländern nicht anerkannt.“
Diese Probleme gebe es, bestätigt Miguel Angel Meza, Chef des paraguayischen Kartonbuchverlags „MBurukujarami Kartonera“. „Aber das Konzept steht ja auch noch am Anfang. Wir wollen uns vergrößern und verbessern und haben schon viele Ideen.“ So will sein Verlag demnächst auch CD-Hüllen herstellen und sich auf Buchmessen präsentieren.
Unterstützung bekommen viele der Kartonbuchverlage aus Deutschland: Der Publizist Timo Berger, der als Freund von Washington Cucurto schon bei den ersten Aktivitäten von „Eloisa Cartonera“ in Buenos Aires dabei war, übersetzt und vermittelt gute Autoren und hilfreiche Kontakte für die Verlage. Auch viele seiner eigenen Werke sind in Kartonbüchern erschienen – auf spanisch und deutsch.
„Anfangs hielt ich das alles für ein Experiment, ich konnte überhaupt nicht abschätzen, welche Dynamik es entwickeln würde.“ Inzwischen hat der 35-Jährige sogar einen eigenen Kartonbuchverlag in Deutschland gegründet: „PapperLaPapp“. Vorerst vertreibt der allerdings nur fertige Bücher oder Anthologien der Partner in Lateinamerika, eigene Kartonbücher gibt es bislang nicht. „In Deutschland gibt es ja keine Cartoneros, nur Flaschensammler – und Flaschenpost herzustellen wäre zwar reizvoll, aber nicht dasselbe.“
Christina Horsten
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